Weniger chemischer Pflanzenschutz erfordert mehr Erfindungsreichtum im Ackerbau
20. Pflanzenbautagung der Landwirtschaftskammer Niedersachsen lotet Konsequenzen und Möglichkeiten der politisch geforderten Reduktionsstrategie aus
Hannover – Können Pflanzenzüchtung, eine erweiterte Fruchtfolge und alternative Wirkstoffe den zunehmend eingeschränkten Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel im Ackerbau ausgleichen und die Entwicklung nachhaltiger Anbausysteme begünstigen? Auf der 20. Pflanzenbautagung der Landwirtschaftskammer Niedersachsen (LWK) am Freitag (24.02.2023) in Hannover, die Pflanzenbau-Fachbereichsleiter Gerald Burgdorf mit seinem Team organisiert hatte, analysierten LWK-Fachleute sowie Vertreter aus Forschung und Wirtschaft in Vorträgen die aktuelle Situation. Zusätzlich gaben sie den 125 Gästen aus Praxis und Beratung wichtige Einschätzungen für die zukünftige Entwicklung.
„Gesellschaft und Politik streben danach, den Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmitteln zu reduzieren“, berichtete Kammerpräsident Gerhard Schwetje mit Blick auf die Reduktionsstrategie, die die Partnerinnen und Partner des Naturschutzbündnisses „Der Niedersächsische Weg“ erst Mitte Februar 2023 vorgestellt hatten.
Schwetje: Bereits auf dem Weg zu Pflanzenschutz-Reduktionszielen
Das Ziel, mindestens 25 Prozent der Pflanzenschutzmittel bis 2030 einzusparen, sei ambitioniert, sagte Schwetje. „Die Landwirtschaftskammer Niedersachsen und die Betriebe haben sich bereits auf den Weg gemacht, um dieses Ziel auch zu erreichen.“ Der Pflanzenschutz habe im Ackerbau eine große Bedeutung, fügte der Kammerpräsident hinzu: „Der Schutz unserer Kulturpflanzen ist elementarer Bestandteil des Pflanzenbaus in Niedersachen mit dem Ziel, die Ernte auf unseren Feldern für die Ernährungssicherheit im ökologisch intakten Naturhaushalt zu erhalten.“
Eine weitergehende Einschränkung des Einsatzes chemischer Pflanzenschutzmittel führt nicht nur in Teilen der ackerbaulichen Praxis zu intensiven Debatten, sondern ist auch in der Wissenschaft ein Thema: Die jüngsten Pläne der Europäischen Union basierten auf einer gesellschaftspolitischen Fehlbewertung des Pflanzenschutzes, betonte Prof. Dr. Andreas von Tiedemann von der Georg-August Universität Göttingen in seiner Analyse.
Tiedemann: Moderne Pflanzenschutzmittel haben kein Potenzial, um Arten zu eliminieren
Tiedemann, Leiter der Abteilung Pflanzenpathologie und Pflanzenschutz im Department für Nutzpflanzenwissenschaften der Fakultät für Agrarwissenschaften, vermisst wissenschaftliche Belege, die etwa die Argumentation stützen, dass chemischer Pflanzenschutz die Artenvielfalt einschränkt: Moderne Pflanzenschutzmittel hätten weder das Ziel, noch das Potenzial, Arten zu eliminieren, so der Forscher.
„Das Konzept des chemischen Pflanzenschutzes, die Herunterregulierung von Schaderregerpopulationen unter die wirtschaftliche Schadensschwelle, und zwar nur bis zur Ernte, wird offenbar nur von den Wenigsten verstanden“, folgerte der Pflanzenschutzexperte der Uni Göttingen. Pflanzenschutz sei die falsche Stellschraube zur Regulierung von Biodiversität.
Pflanzenschutzpolitik sei seit Jahren eine Getriebene von Kampagnen, sagte Tiedemann weiter. „Wir haben Kampagnen auch gegen grüne Gentechnik oder Corona-Impfungen erlebt, in letzterem Fall hat die Politik klug und sachgerecht gehandelt – dies wäre ein gutes Beispiel zur Beherzigung auch in den beiden anderen Technologiefeldern.
Dehler: Betriebe müssen mit Anpassungskosten rechnen
Nach Einschätzung von Dr. Marcel Dehler vom Thünen-Institut für Betriebswirtschaft in Braunschweig betreffen die bisherigen EU-Vorschläge zur Pflanzenschutzmittel-Reduktion rund ein Drittel der deutschen Ackerfläche. Gemessen am Pesticide Load Indicator – einem Risikomodell, das die gesundheitlichen und ökologischen Risiken und das Umweltverhalten einzelner Wirkstoffe einbezieht – zeigte Dehler anhand einer Modellrechnung für die Region Südhannover, dass eine Risikoreduktion um 25 Prozent im Idealfall mit Kosten von 10 bis 20 Euro pro Hektar vergleichsweise günstig zu erreichen ist.
Eine Halbierung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes könne hingegen zu Anpassungskosten von bis zu 125 Euro pro Hektar führen, rechnete Dehler den Gästen der Pflanzenbautagung vor. „Anpassungskosten entstehen unter anderem durch Ertragseinbußen, höhere Arbeitserledigungskosten etwa durch mechanische Unkrautregulierung oder auch höhere Kosten für Pflanzenschutzmittel in Folge einer veränderten Wirkstoff- und Produktauswahl.“
Obergrenze, Steuer, Prämien- oder Lizenzmodell denkbar
Um die Reduktion des Pflanzenschutzmittel-Einsatzes politisch durchzusetzen, seien verschiedene Wege denkbar, führte Dehler weiter aus: etwa einzelbetriebliche Obergrenzen über das Ordnungsrecht, eine Pflanzenschutzmittel-Steuer, ein Prämienmodell sowie ein Lizenzmodell mit handelbaren Nutzungsrechten. „Kern der Lizenz-Idee ist, dass es eine fixe Anzahl an Nutzungsrechten in Deutschland gibt, die Landwirtinnen und Landwirte untereinander handeln können; der Preis setzt sich aus Angebot und Nachfrage zusammen.“
Schacht: Weizensorten mit guter Resistenzausstattung
Dr. Johannes Schacht, Weizenzüchter bei der Limagrain GmbH in Peine-Rosenthal, berichtete zu den Möglichkeiten und Grenzen der Weizenzüchtung bei reduzierten Pflanzenschutz- und Düngemitteleinsatz: „Bereits heute stehen Weizensorten mit guter Resistenzausstattung zur Verfügung, die einen Verzicht auf die frühe beziehungsweise die späte Fungizidbehandlung erlauben“, so Schacht. Der „genetische Pflanzenschutz“ einiger Sorten könne den chemischen Pflanzenschutz schon heute partiell ersetzen.
Auch im Hinblick auf eine effizientere Verwertung der Stickstoffdüngung seien bereits praxistaugliche Lösungsansätze aufgezeigt worden, fügte Schacht hinzu. „Herausforderungen für die Züchterinnen und Züchter bleiben die Resistenzen gegen Virosen, Insekten und samenbürtigen Krankheiten wie zum Beispiel Steinbrand.“ Der Produktionsfaktor Sorte und zertifiziertes Saatgut müsse aufgewertet werden um die Forschungs- und Entwicklungskosten der Zuchtunternehmen zu refinanzieren, sagte der Weizenexperte.
Howind: Positive Effekte durch geeignete Vor- und Zwischenfrüchte
Durch die Integration von Kulturen, die in der Regel weniger Pflanzenschutzgaben benötigen als andere Kulturen, in die Fruchtfolge könne der Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel im Schnitt reduziert werden, berichtete Kai-Hendrik Howind, Leiter des Sachgebiets Anbausysteme, Fruchtfolgen, Digitales im LWK-Fachbereich Pflanzenbau.
Doch es bleibe die Frage, ob solche Kulturen auch bei größerer Anbaubedeutung beim Pflanzenschutz extensiv blieben, fuhr Howind fort. Für weitere positive Effekte beim Einsparen chemischer Pflanzenschutzmittel könnten geeignete Vor- und Zwischenfrüchte in den etablierten Kulturpflanzen sorgen. „Diesen und weiteren Fragen geht die Landwirtschaftskammer unter anderem in einem groß angelegten Feldversuch an der Elbmündung nach – die ersten Ergebnisse sind vielversprechend“, hob Howind hervor. „Doch die Fruchtfolgegestaltung ist ein langwieriger Prozess, der viele weitere Einflussfaktoren einbeziehen muss – dadurch werden die Betriebe die ideale Fruchtfolge zukünftig noch individueller entscheiden müssen als bisher.“
Benecke: Anwendungsbedingungen für Biostimulanzien genauer definieren
Die diskutierten Reduktionsziele sowohl im Pflanzenschutz als auch in der Düngung befeuern die Suche nach Alternativen, die einerseits die Umweltauswirkungen der Landwirtschaft reduzieren, andererseits aber auch weiterhin die Erzeugung von qualitativ hochwertigen, sicheren Lebensmitteln ermöglichen sollen. „Vor diesem Hintergrund sind die Produktgruppen der Biostimulanzien, Biologicals oder auch Biologischen Pflanzenschutzmittel stark ins Gespräch gebracht worden“, berichtete Caroline Benecke, Leiterin des Sachgebiets Düngung, Pflanzenernährung und Nährstoffmanagement im LWK-Fachbereich Pflanzenbau.
„In ersten Versuchen mit Biostimulanzien konnte noch nicht klar herausgearbeitet werden, unter welchen Bedingungen ein positives Ergebnis, bezogen auf den Ertrag oder die Qualität des Ernteproduktes, sicher eintreten kann“, sagte Benecke. Sie forderte die Hersteller und Vertriebler dieser Produkte auf, Anwendungsbedingungen genauer zu definieren. „Bei Biostimulanzien können wir nicht mit der Dosis-Wirkungs-Beziehung rechnen, die wir aus dem Pflanzenschutz kennen.“
Aus diesem Grund müsse die Erwartungshaltung der Landwirte realistisch gehalten werden, empfahl Benecke: „Eine adäquate Alternative beispielsweise zur klassischen Düngung sind Biostimulanzien nach ersten Erfahrungen in Versuchen nicht – weitere Versuchsjahre sollen hier umfassendere Erkenntnisse liefern.“
Schwetje: Betroffene Betriebe nicht überfordern
Bei der Umsetzung der Reduktionsziele beim chemischen Pflanzenschutz sei es wichtig, die betroffenen Betriebe nicht zu überfordern, ergänzte Kammerpräsident Schwetje. Zur Unterstützung der Bäuerinnen und Bauern werde sich die LWK den nötigen Fragestellungen vollumfänglich stellen: „von der Innovationsentwicklung zu vielseitigen Ackerbausystemen und zur digitalen Präzision bei Planung und Ausbringung, über gezielte Beratung zum integrierten Pflanzenbau mit standortgerechter Sortenwahl und Fruchtfolge“.
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