„Psychische Gesundheit in der grünen Branche – wen interessiert's?“
Der viel beschriebene Transformationsprozess der Landwirtschaft kann nur gelingen, wenn es den Menschen auf den Höfen physisch und psychisch gut geht. Diese psychosoziale Komponente muss mehr in den Blick genommen werden. Darin waren sich die gut 100 Teilnehmenden aus Politik, Wissenschaft, Beratung und Verbänden einig, die Anfang Mai an einem zweitägigen Symposium der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) unter der Schirmherrschaft des Bundeslandwirtschaftsministers Cem Özdemir in Berlin teilgenommen haben.
Es kommt auf die Menschen an!
Vorstandsvorsitzender Walter Heidl hob in seiner Begrüßung hervor, dass es die Landwirtschaft mittlerweile mit Strukturbrüchen statt mit Strukturwandel zu tun hat. Pfarrer Peter Schock von der evangelischen Landeskirche in Baden unterstrich diesen Aspekt in seiner theologisch-ethischen Betrachtung des Themas. „Die Erwartungen der Gesellschaft sind groß - bei der Umsetzung fühlen sich die Landwirte alleingelassen!“ Es reicht nicht, nur neue Strukturmaßnahmen aufzulegen, denn die Menschen auf den Höfen müssen sie umsetzen. Die zahlreichen Maßnahmen des Arten- und Ressourcenschutzes sind nutzlos, wenn es keine Menschen in der Landwirtschaft mehr gibt, die ihre Arbeit verrichten können. Pfarrer Schick warnt dringend, die Menschen in ihrem Gesamtzusammenhang in den Blick zu nehmen. Die Landwirtschaft ist geprägt von einer engen Gemeinschaft, einer langen Tradition mit hohen Wertvorstellungen, bei denen Emotionen vor reiner Rationalität stehen. Das bedeutet Fluch und Segen zugleich, denn die hohe Identifikation kann sehr belastend werden und krank machen.
Empfehlungen der Zukunftskommission Landwirtschaft nicht länger übersehen!
Die Zukunftskommission Landwirtschaft hat sich auch mit den sozialen Handlungsfeldern im Transformationsprozess befasst. Darauf wies Dr. Marion Baierl von der SVLFG hin. „Diese psychosoziale Komponente ist bisher weitgehend übersehen worden, weil unterstellt wird, der Veränderungsprozess könne allein durch politische Vorgaben oder finanzielle Anreize gelingen“. Sie betont, dass nur gesunde, ressourcenbefähigte Unternehmerinnen und Unternehmer in der Lage sind, die anstehenden Herausforderungen anzunehmen und zu bewältigen. Eine Überforderung im Prozess gefährdet die Gesundheit, weil die Betroffenen Restrukturierungen als existenzbedrohende Krise wahrnehmen. Verschärft wird die Situation, wenn zur zunehmenden Abhängigkeit von sich ändernden Rahmenbedingungen durch gesetzliche Vorgaben und gesellschaftliche Ansprüche soziale Konflikte in der Unternehmerfamilie hinzukommen. Frau Dr. Baierl betont, dass ein gelungenes Veränderungsmanagement deshalb auch unverzichtbarer Teil des betrieblichen Gesundheitsmanagements sein muss. Die SVLFG plant in diesem Zusammenhang den Einsatz von Veränderungslotsen zur Begleitung und Stärkung der Betroffenen in dem Prozess. Sie wird dabei auf bewährte Konzepte zurückgreifen wie die Kooperation mit der Sozioökonomischen Beratung und den Einsatz der Fallkoordinatoren. Dabei sollen auch die Nebenerwerbsbetriebe stärker in den Fokus rücken, denn sie sind wichtig für den ländlichen Raum, bergen aber eine große Gefahr der Mehrfachbelastung der dort tätigen Personen.
Betroffenen eine Stimme geben!
Besonders eindrucksvoll waren die Berichte zweier Betroffener, die von ihrem persönlichen Weg in und aus einer Lebenskrise berichtet haben. Ihre Worte haben gezeigt, wie wichtig es ist, früh genug Hilfe in Anspruch zu nehmen und mit dem sozialen Umfeld im Gespräch zu sein und zu bleiben. Es erfordert sehr viel Mut, Hilfe anzunehmen, sich zu öffnen und neue Wege zu gehen – auch gegen Widerstände.
Auch die Bäuerinnenstudie hat eine sehr hohe Belastung der Befragten gezeigt. Als Hauptverursacher haben die Frauen zwei Themen benannt: Das gesellschaftliche Image der Landwirtschaft, die Planungsunsicherheiten bei großen Investitionen. Diese Faktoren sind kaum bis gar nicht von den landwirtschaftlichen Familien zu beeinflussen. Die Menschen fühlen sich allein gelassen. Zazie von Davier (von Thünen-Institut Braunschweig) und Anika Bolten (Universität Göttingen) stellten die Ergebnisse vor.
Hilfsangebote gut vernetzen!
Vorstandsvorsitzender Heidl fordert deshalb einen nachhaltigen Transformationsprozess, bei dem die Säulen Ökonomie, Ökologie und Soziales gleichwertig nebeneinanderstehen. „Nur gesunde Bauernfamilien sind in der Lage, die Herausforderungen zu meistern“. Hilfsangebote müssen niedrigschwellig und untereinander gut vernetzt sein. Die Menschen auf den Höfen müssen lernen, Hilfe frühzeitig anzunehmen. Beratung muss integraler Bestandteil von Veränderungsprozessen sein.
Professor Dr. phil. Hugo Mennemann von der Fachhochschule Münster beleuchtete die ethischen Grundlagen und Legitimation von Beratung. Er machte sehr deutlich, dass Beratung vor allem eine Frage der Haltung ist. Sie beinhaltet den Respekt vor dem Leben und der Anerkennung des Andersseins des anderen. „Beratung kann man nicht einfach so!“ Grundlage ist der Bedarf der Menschen. Der fortschreitende Individualisierungsprozess braucht andere professionelle Hilfsangebote und erfordert deutlich mehr Kommunikation.
Hier setzen die Beratungen der Landwirtschaftskammern, des Berufsstandes sowie der Familienberatung an, wie die Podiumsdiskussion mit Christine Singer (Landesbäuerin des Bayrischen Bauernverbandes), Hartmut Schneider (Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Familie und Betrieb) und Gerhard Schwetje (Präsident des Verbandes der Landwirtschaftskammern) eindrücklich zeigte.
In den Bundesländern Bayern und Niedersachsen ist 2020 bzw 2021 ein Pilotprojekt in Kooperation mit der SVLFG gestartet. Letztere hat den Versicherten unter bestimmten Voraussetzungen jeweils bei Bedarf 10 Stunden sozioökonomische Beratung und Mediation finanziert. Die Evaluierung durch Dr. Christian Hetzel von der Sporthochschule Köln zeigt sehr beeindruckend, dass mit dieser Maßnahme die psychisch belasteten Menschen auf den Höfen erreicht werden und dass die Beratung entscheidend dazu beitragen kann, die Belastung nachhaltig zu senken. Die wissenschaftliche Begleitung hat deutlich vor Augen geführt, dass mehr als vier von fünf Teilnehmenden die Grenze zur Depressivität erreicht bzw. überschritten hat. Aufgrund der positiven Effekte der sozioökonomischen Beratung und Mediation wird die Kooperation in den anderen Bundesländern ebenfalls aufgebaut. Partner in Bayern ist der Bayrische Bauernverband, in Niedersachsen die Landwirtschaftskammer. Als Vertreter gaben Isidor Schelle und Anne Dirksen Einblicke in ihre Arbeit.
Ergänzt wird das Angebot durch die Krisenhotline sowie das Einzelfallcoaching der SVLFG. Beide Angebote werden sehr gut nachgefragt und leisten sehr niedrigschwellige und passgenaue Hilfe. Die Krisenhotline ist rund um die Uhr ganzjährig besetzt. Oftmals schließt sich das telefonische Einzelfallcoaching an. Die Teilnehmenden schätzen die kurzen Wartezeiten und die gute Vereinbarkeit mit den betrieblichen Abläufen. Beide Angebote werden ebenfalls wissenschaftlich begleitet und erzielen eine hohe Wirksamkeit. Ein Team von PsychologInnen unter der Leitung von Dr. Margot Flaig führt die Gespräche und begleitet die Versicherten. Die Evaluation erfolgt unter der Leitung von Dr. Matthias Berking von der Universität Erlangen-Nürnberg.
Zum Abschluss der zwei Tage gab Professor Dr. Bernhard Sieland aus Lüneburg einen Ausblick auf eine online-gestützte Beratung mit professionellen Impulsgebern.
Berliner Erklärung verabschiedet
Die Ergebnisse der Tagung inklusive der Diskussionen im World-Café sind in die Berliner Erklärung gemündet. Kernforderung ist: „Soll der Umbau der Landwirtschaft gelingen, muss der Mensch in seiner persönlichen Lebenssituation im Mittelpunkt stehen.“ Deshalb wird gefordert,
- die psychosoziale Dimension stärker in den Fokus zu rücken
- allen Menschen in der grünen Branche frühzeitig niedrigschwellig und über verschiedene Kommunikationswege Rat und Hilfe anzubieten
- die Themen „Psychische Belastung/Burnout/Depression“ und „Suizid“ zu enttabuisieren
- dass die Politik den Akteuren entsprechende Rahmenbedingungen schafft: Planungssicherheit, klare und erfüllbare Vorgaben, Entbürokratisierung sowie klare Bekenntnisse zur Branche
Um diese zu erreichen, fordert die Berliner Erklärung die Umsetzung folgender Maßnahmen:
- vernetzte Angebote für die betrieblichen Akteure
- Kampagne zur Enttabuisierung des Themas psychische Belastung in der grünen Branche
- Spezielle Forschungsprojekte zur Suizidprävention
- Einrichtung einer Dialogplattform/ online-Beratung mit professionellen Impulsgebern bei der SVLFG
- Verwaltungsrechtliche Angleichungen zwischen den Versicherungszweigen im Verbundträger SVLFG
- Aufbau eines interdisziplinären Netzwerks der handelnden Akteure.
Die ausführliche Erklärung sowie detaillierte Informationen zur Tagung inklusive der Vorträge finden Sie unter www.svlfg.de/pm-symposium-zur-psychischen-gesundheit
Kontakte
Anne Dirksen
Leiterin Fachbereich Familie und Betrieb, Landfrauenarbeit, Sozioökonomie, zertifizierte Mediatorin
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